Luigi Nono: Polifonica – Monodia – Ritmica (1950-1951)
Jürg Stenzl
Bereits in den 40er- und 50er-Jahren finden sich in den Werken von Luigi Nono politische Stellungnahmen. So ist die Einbindung eines Tanzrhythmus brasilianischer Ureinwohner:innen in Polifonica – Monodia – Ritmica nicht nur von musikalischem Interesse. Nono sieht in der Begegnung mit der Natur und im Singen die Möglichkeit, Kraft zu schöpfen, um sich aus der „Unterdrückung durch den gesellschaftlichen Überbau“ (Nono) zu lösen.
Seine Erfahrungen in Südamerika schildert der Komponist 1968 folgendermaßen: „Die Lehre, die ich aus Südamerika mitgebracht habe, ist die Notwendigkeit, die Ethnozentrik, deren Opfer wir aus verschiedenen Gründen sind, zu überwinden. Diese westeuropäische Kultur, die immer egozentrischer wird, die sich immer orthodoxer und imperialistischer als beherrschend und im nordamerikanischen Sinne wirksam darstellt, weshalb will sie als bestimmender Faktor vorherrschen So wie sich das Problem der Entwicklung und der Bedeutung einer Musiksprache für den jungen Bolivianer, Vietnamesen, Kubaner oder Angolesen in direkter Verbindung mit seiner Situation stellt […], so muss für den Europäer die Ethnozentrik – also die Bedeutung einiger traditioneller Musiker – mit den Verdammten dieser Erde rechnen, wenn der europäische Musiker auch die kulturelle Vermittlung seiner eigenen Zeit verstehen und an ihr teilhaben will. […]
Ergibt sich die Bedeutung eines Musikers aus der sozialen Struktur, in der er lebt, oder ihr zum Trotz? Weshalb? Und lässt sich die Bedeutung einer sozialen Struktur (d. h. der neuen Möglichkeiten, die sie bietet) auch durch die kulturellen Ergebnisse, die aus ihr folgen, messen oder trotz ihnen? Worauf stützt sich und woran misst sich die Bedeutung eines Musikers?
Sicherlich nicht ausschließlich auf technisch-sprachliche Argumente. Sicher auch auf sie, aber vor allem in Hinblick auf eine neue strukturelle soziale Beziehung.
Neu steht hier für soziale historische Entwicklung.
Neu steht für die Entwicklung oder Schaffung des Sozialismus.
Neu für den neuen Menschen.
Deshalb trifft die aufreizende Frage der jungen Südamerikaner den Kern des Problems: die Bedeutung neuer technischer Fähigkeiten und neuer sozialer Strukturen, frei für neue Arten des Ausdrucks. (Die Erpressung durch die Vorherrschaft der reinen Ästhetik, mit der die Vereinigten Staaten von Amerika versuchen, die Schlinge um den Hals der jungen Musiker Lateinamerikas zu halten, ist in ihrer Offensichtlichkeit so verschlissen, dass sie nur bei den Elendesten wirkt). Ihre Frage muss auch unsere sein. Sie ist es.“
„Polifonica ist das Prinzip, Monodia ist der Gesang, Ritmica der Tanz“, schrieb Nono über das 1951 in Darmstadt uraufgeführte Werk für fünf Blasinstrumente, Klavier und Schlagzeug. Es beruht auf einem Rhythmus brasilianischer Indios. Der Titel benennt drei Satztypen, gleichzeitig aber auch drei Charaktere. Der erste Satz (Adagio – Allegro) beginnt, wohl von Anton Weberns Symponie op. 21 angeregt, mit einem vierstimmigen Doppelkanon, der laufend dichter wird, da die einzelnen Stimmen immer weniger Pausen zwischen den einzelnen Tönen aufweisen. Gleichzeitig beruht aber dieser Kanon auch auf einem „musikalischen Objekt“, nämlich einem durch die brasilianische Komponistin und Scherchen-Schülerin Eunice Catunda übermittelten Indios-Rhythmus.
Im Allegro-Teil wird dieser in 46 verschiedenen Variationen geradezu systematisch durchgeführt. – Der zentrale Satz ist eine langgezogene Gesangslinie der Bläser mit Kontrapunkten im Schlagzeug, in denen ein Varèse-Zitat als Hommage an den Komponisten versteckt ist. – Der letzte Satz für Schlaginstrumente, die Ritmica, ist wiederum kanonisch angelegt: der Rhythmus-Satz ist also gleichzeitig – wie der erste – eine Polifonica.
Nono selbst äußerte sich in einem Gespräch mit Enzo Restagno 1987 in Berlin über das Stück wie folgt: „Polifonica – Monodia – Ritmica basiert auf einem brasilianischen Lied. Von dieser […] Arbeit sagten alle, dass sie auf Webern zurückgreife, während sie tatsächlich auf dem Gesang Jemanja – das ist in Brasilien die Meeresgöttin – basiert. Es ist ein zeremonieller Gesang, den die Ureinwohner Brasiliens anstimmen, indem sie der Göttin gewidmete Kränze ins Meer werfen. Es war just Catunda, die ihn uns beibrachte. Ich nahm dieses Material und verwendete es in Polifonica – Monodia – Ritmica sowohl unter dem rhythmischen Gesichtspunkt als auch unter dem intervallischen.“