strange bird

Clara Iannotta: vacant lot (strange bird) (EA)
Juri Giannini

vacant lot (strange bird) ist Teil eines Zyklus von fünf Kompositionen Clara Iannottas, die aus dem poetischen Werk der irischen Schriftstellerin Dorothy Molloy Inspiration schöpfen. In einer Videodokumentation anlässlich der Uraufführung erzählt die Komponistin, dass diese fünf Werke das Gedicht My heart lives in my chest als Ausgangspunkt nehmen. Dem ganzen Zyklus liege auch dieselbe Idee zugrunde, nämlich die Erforschung eines seltsamen Gefühls, im eigenen Körper verloren und fremd zu sein und nicht mehr zu sich selbst zu gehören, so wie ein richtungsloser Vogel, der von Ort zu Ort treibt, ohne jemals zu landen oder sein Ziel zu finden. Das Stück versucht diesen körperlichen Zustand nachzuzeichnen, indem sich ein und derselbe Klang, ein D, in unterschiedliche Räume bewegt, wie der erwähnte verzweifelte Vogel. Iannottas Partitur gleicht in vieler Hinsicht einer Aktionspartitur: Alle Instrumentalist:innen bedienen auch andere Objekte; der visuelle Aspekt des Notats ist oft irreführend und verwirrend vielschichtig – ein Konglomerat von Klangereignissen, die sich nur beim Zuhören zeitweise zusammenfügen.

Die Uraufführungen der Kompositionen
von Brendan Champeaux, Shiqi Geng und Yiran Zhao
Juri Giannini

Pluralität charakterisiert auch drei Partituren junger Komponist:innen, die zur Uraufführung gelangen. Der Franzose Brendan Champeaux präsentiert sich als Komponist, Improvisateur und Klangforscher. Die aus China stammende und in Berlin und Helsinki tätige Yiran Zhao komponiert mit Materialien und Medien aus verschiedenen Kunstformen (etwa Bild- und Tonmaterial, performatives Material, manchmal auch sensorische Materialien) und versucht, diese über die Grenzen der „Komfortzone“ zu pushen. Shiqi Geng drückt in seiner extrem dichten Partitur eine Weltanschauung aus, die sich auch auf die politische und gesellschaftliche Situation seines Herkunftslandes China bezieht. Gleichzeitig zielt seine ästhetische Intention, von Chagall, Proust und Tarkovskij beeinflusst, auf die Zeitlosigkeit, die Wesentlichkeit und das Metaphysische.

(Die Kompositionsaufträge wurden in Kooperation und mit Unterstützung von AFF Projects vergeben.)

George Lewis: Disputatio (2023) (EA)
Juri Giannini

Die Szene(n) der zeitgenössischen Musik in Österreich treten seit etwa zwanzig Jahren vermehrt mit Komponist:innen aus der ganzen Welt in Dialog. Dabei geht es weniger darum, Brücken zu bauen, so wie es ab den 1980er Jahren mit dem leisen Eintreten außereuropäischer Werke in das Repertoire der Neuen Musik geschah. Schließlich gibt es diese Brücken bereits und aus diesem Grund überrascht es nicht, dass sich der Kanon ständig auffächert und vielfältig im Sinne einer globalen Klangkultur wächst. Auf den österreichischen Bühnen sind die Kompositionen von George Lewis als Paradebeispiel des musikalischen Denkens jenseits der Grenzen immer präsenter. Sowohl in der akademischen Komposition, im Avantgarde Jazz und in der freien Improvisation beheimatet, vereint der afroamerikanische Komponist diverse Konzepte des musikalischen Handelns. Er bezieht sich dabei auf die Tradition der amerikanischen und afroamerikanischen Musik, auf Komponist:innen wie Amy Beach, Charles Ives, Duke Ellington, Thomas „Blind Tom“ Wiggins und Elliott Carter. Disputatio knüpft auch inhaltlich an dieser Idee von Pluralität an. Die Komposition, eine Art akustisch-spekulative Fiktion über die Dialektik von Geist und Körper, ist als musikalische Nacherzählung eines öffentlichen Disputs des Philosophen Anton Wilhelm Amo (1703–1759) konzipiert. Amo wurde aus Ghana (wahrscheinlich als Sklave) nach Deutschland gebracht und diente bei einer adeligen Familie, die ihm eine akademische Ausbildung ermöglichte. Er gilt als philosophischer Vordenker des Antirassismus und lehrte Philosophie an den Universitäten Halle und Jena bevor er 1747 nach Afrika zurückkehrte.

Fotos Konzert © Christina Kastner/Klangforum Wien
Videos Vimbayi Kaziboni, Brendan Champeaux, Shiqi Geng & Yiran Zhao © Christina Kastner/Klangforum Wien